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Kleine Fluchten - Text KF/01


CHARLES / 1
Ein gutes Gefühl. So müsste es eigentlich immer sein. Die Sonne steht schon hoch am Himmel und warmes, weiches Licht schiebt sich zwischen den halb geöffneten Vorhängen des Mansardenfensters hindurch. In dem französischen Bett, das unweit von dem Fenster in der Galerie unter dem Dach seinen Platz gefunden hat, räkelt sich Charles genussvoll unter seiner Decke. Er blickt auf den kleinen Tisch neben seinem Bett, den er als Ablage für alle wichtigen Utensilien benutzt, die ausschließlich den wirklich wichtigen Dingen des Lebens dienen. Zufrieden, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, vergewissert er sich, dass der Wecker, der sich da in früheren Zeiten störend in dieses Arrangement gedrängt hat, nicht mehr existiert.
“Liberté!” - die französische Revolution hat auch in diesem Raum eine Teilsieg errungen. Charles schlägt die Decke zurück und setzt sich an den Bettrand, um die Reihenfolge der Schritte zu überlegen, die er in diesen neuen Tag hinein setzen will.
Frühstück - ja, nein? … natürlich ja, … aber die Frage “Frühstück allein zuhause oder im Café “Maxime” am Place Concorde? …
Eigentlich auch keine wirklich ernsthafte Frage, denn heute ist ein besonderer Tag, der auch besonders gefeiert werden muss.
Seit genau einem Jahr lebt er nun in diesem kleinen Ort im Elsass, nur eine halbe Stunde von Colmar entfernt. Ein Ort, der etwas abseits der üblichen Touristenstrecken liegt, was Charles überaus gelegen kommt, da er sowohl das Gedränge als auch die ärgerlichen Trödeleien hasst, denen man in den touristischen Wallfahrtsstätten nicht entkommen kann. Ein Neuanfang, der sich für Charles völlig unerwartet ergeben hatte.

Ein renommierter Autor des kleinen Verlags in Freiburg, in dem Charles als Lektor arbeitete und zu dem er schon seit Jahren ein besonders freundschaftliche Verbindung hatte, hatte ihn eines Tages zu einem Glas Wein eingeladen.
Im Laufe dieses gemeinsamen Abends eröffnete er ihm, dass er zusammen mit seiner neuen Lebensgefährtin, die aus Toronto stammte, nach Kanada auswandern wolle. Diese hatte dort am Lake Ontario ein größeres Anwesen in wunderschöner Umgebung geerbt, das sie nun zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt machen wollten. Die örtliche Unabhängigkeit eines Autors mache ihm diese Entscheidung leicht, darüberhinaus verspreche er sich von der neuen Heimat Inspiration und neue Impulse für sein Schreiben.
Der Autor selbst besaß ein altes Haus im Elsass, das er mit viel Liebe und gutem Geschmack zu einem richtigen Schmuckstück umgebaut hatte. Sich von diesem Haus endgültig zu trennen, wollte ihm aber nur schwer gelingen. Von daher machte er Charles ein Angebot, dem Charles nicht widerstehen konnte.
Der Autor würde das Haus behalten, aber Charles würde ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt, ohne dass er irgendeinen Mietbeitrag leisten müsste. Die Tatsache, dass das Haus bewohnt würde und nicht von irgendjemandem, sondern von einem guten Freund, wäre für ihn, den Autor, eine große Beruhigung. Instandhaltungskosten, Reparaturen würde der Autor übernehmen, die Kosten für Strom und Wasser müsste Charles übernehmen. Er wäre praktisch der Hausverwalter dieses Hauses. Der Autor fügte hinzu, dass er ja von Charles wisse, das dieser davon träume nach langen Jahren als Lektor selbst einen Roman zu schreiben, zu dem er schon seit langem in Vorarbeit getreten war. Zu der Ausführung aber fehlte Charles die Zeit und die nötige Muße. Die Aussicht, dies endlich in Angriff nehmen zu können, ließ Charles nicht lange zögern und die beiden waren sich rasch einig..

… Diesen besonderen Jahrestag - ein Jahr hier in Fountainac, will Charles nun mit allen Sinnen und in großer Dankbarkeit für seinen Gönner begehen.
Charles, dessen eigentlicher Vorname Karl ist, hatte sich mit dem Umzug nach Frankreich für die französische Version seines Namens entschieden, als sicht- und hörbares Zeichen für diesen Neuanfang. Inzwischen kennt er den Großteil der Einwohner von Foutainac, und auch diese haben Charles als neuen Einwohner akzeptiert. …
……………
Fortsetzung folgt …     Pfeil rechts